top of page
Duft.jpg
Tradition.jpg
Duft.jpg
Tradition.jpg
Duft.jpg
Tradition.jpg
Tradition.jpg
Tradition.jpg

RUNDGANG DURCH DIE MÜHLE MIT FRANZ TREICHLER

veröffentlicht in OEVERwerk, artedition - Verlag Bibliothek der Provinz, 2020

silo Bau geschnitten Kopie.jpg

Diasammlung Rösselmühle

Wenn man etwas über die Rösselmühle wissen will, kommt man an Franz nicht vorbei. Als ehemaliger Angestellter und Maschinenschlosser ist er seit Jahrzehnten beinahe täglich in der Mühle unterwegs. Man hat den Eindruck, dass zwischen ihm und dem Ort eine Art Symbiose besteht, und das Gefühl, als hätte er nichts von dem verpasst, was hier in den vergangenen Jahrzehnten geschehen ist. In unzähligen Touren führt er uns über Stunden immer wieder durch das Gebäude. Stiegen rauf, Stiegen runter und immer Achtung auf die vielen kleineren und größeren Löcher im Boden, durch die die Rohre für die Produktion liefen. Bei jedem Rundgang erfahren wir mehr und mehr über Mehl, Mehltypen, Getreide, die unterschiedlichen Eigenschaften von Korn, über Arbeitsabläufe in der Mehlproduktion, die Aufgaben des Müllers und warum die Rösselmühle am Ende nicht mehr fähig war, der Konkurrenz gegenüber zu bestehen.

 

Ich kann mich nicht an alle Details seiner Erzählung erinnern, dafür waren die Geschichten zu vielfältig und die Informationen zu überwältigend und zugleich beeindruckend, da sie weit entfernt von meinem, unserem, dem heutigen Leben erscheinen. Was bleibt in meiner Erinnerung von all den Rundgängen und vielen Erzählungen und Eindrücken? Vielleicht das dicke große Getreideeingangsbuch.

 

Wir befinden uns irgendwo im Inneren der Mühle in einer vom restlichen großen Raum durch Holzwände und Glasfenster abgetrennten Ecke, die einer verlassenen Kommandozentrale gleicht. Auf dem Tisch in der hinteren Ecke liegt ein großes, überaus schweres Buch. Das Getreideeingangsbuch. Es beginnt am 13.1.1978.

 

Franz erklärt oder erzählt, dass hier eingetragen wurde, wenn ein Weizen oder Roggen gekommen ist. Das Datum, von wo er gekommen ist, von welchem Lagerhaus, das Autokennzeichen und das Gewicht. Hier zum Beispiel – in der ersten Spalte – 28 Tonnen, dann – zweite Spalte – die Zettelnummer und – dritte Spalte – wo das Getreide gelagert wurde, in welchem Silo … Bei jedem LKW, der gekommen ist, wurde mit einem Getreidestecher eine Probe genommen, ein sogenanntes Muster gezogen – wie man dazu in der Fachsprache sagt – da wird reingestochen – ich denke, er meint die Getreidelieferung – gedreht und man kann vom Inneren heraus ein Muster nehmen, das dann im Labor analysiert wird.

 

Jede Anlieferung von Getreide wird im hauseigenen Labor untersucht. Im Labor wird in einem Schnellverfahren unter anderem die Feuchtigkeit und der Klebergehalt festgestellt, dass man weiß, wenn das Getreide geliefert wird, wo, in welcher Zelle, es lagern kann. So erfahre ich, dass zum Beispiel ein Getreide mit 29 Kleber und eines mit 33 Kleber nicht im gleichen Silo gelagert werden sollen, sonst ergibt das später ein Problem mit der Mehlqualität.

 

Man muss also schon bei der Einlagerung darauf achten, wo und wie das Getreide gelagert wird, denn der Klebergehalt muss für die Vermahlung annähernd gleich sein. Wenn man dabei zu große Unterschiede hat, kann man die später nicht mehr regulieren. Man weiß ja nicht, wann das nächste Getreide von dieser Art kommt. Vielleicht kommt es heute, vielleicht kommt es morgen.

 

Obwohl das Getreideeingangsbuch so groß und dick und voller beschriebener Seiten ist, hätte ich diese Information wohl nicht darin lesen können. Ein Korn ist also nicht immer mit dem anderen identisch, obwohl es der gleichen Sorte angehört. Vielleicht hat es noch andere Unterschiede, aber auf jeden Fall hat es nicht immer den gleichen Gehalt an Kleber und der ist anscheinend wichtig für die Herstellung von Mehl.

 

Der erste Schritt ist also, das Getreide richtig einzulagern. Vorher muss man es noch analysieren und dann in die richtige Silozelle geben. Das ist die Voraussetzung für eine gleichbleibende Mehlqualität.

Für diese Art der Arbeit gab es früher einen eigenen Silomeister. Der Silomeister war verantwortlich für alles, was mit den Silos zu tun hatte, für die Getreideannahme, das Einstellen der Silos – ich frage jetzt nicht, was das heißt, sonst wird es doch ein bisschen zu ausführlich – und die Reinigung …

Mir scheint, so ein Produktionsablauf der Mehlherstellung ist doch eine etwas komplexere Angelegenheit, und ich frage mich, was ist denn dann die genaue Aufgabe eines Müllers?

Der Müller hat, wenn er die Maschinen eingestellt hat, „nur“ noch Kontrollarbeiten zu machen. Das heißt, er muss während des Mahlvorganges immer wieder ein Muster nehmen und dieses ins Labor bringen, eine sogenannte PK-Probe machen – das ist eine optische Schnellanalyse vom Mehl, was es aber genau heißt, weiß ich nicht – Er nimmt ein Mehlmuster von einer Sammelschnecke während des Laufs, streicht es glatt und taucht es unter Wasser. Dann wird dieses mit einem bestehenden Muster verglichen. Wenn es optisch von der Farbe eine Veränderung zeigt, dann ist irgendwo im Produktionsablauf ein Problem. Entweder ist ein Sieb kaputt oder die Einstellung der Maschine passt nicht, aber meistens ist ein Sieb kaputt. ODER: das Getreide ist bei der Vermahlung noch zu trocken, sodass die Feuchtigkeit beim Benetzen nicht funktioniert und man somit das weiße Mehl nicht trennen kann, das heißt die Abstellzelle ist zu trocken … das ist jetzt doch ein bisschen zu fachspezifisch für mich und ich schalte kurz ab, bis wir wieder beim eigentlichen Ausgangspunkt, der Frage nach der Aufgabe des Müllers, sind …

Der Müller muss das alle drei, vier Stunden kontrollieren, damit, sollte etwas nicht stimmen, das früh genug erkannt und nicht zwei Tage mit der Produktion weitergefahren wird und man irgendwann im Labor, wenn 40 oder 50 Tonnen Mehl schon vermahlen sind, draufkommt, dass die 40 Tonnen zu dunkel sind und sie dadurch nicht verwenden werden können. Deshalb muss der Müller alle paar Stunden kontrollieren. Wenn etwas nicht passt, muss er den Fehler finden und beheben! Der Müller ist somit verantwortlich für die Mehlqualität!

 

Es gibt noch einen Obermüller, aber der hat andere Tätigkeiten. Da geht es um Dokumentationen, um Chargen-Dokumentationen und andere Dokumentationen, Umbauarbeiten Reinigungsarbeiten, Reinigungspläne erstellen und so weiter. Der Obermüller hat viele andere Arbeiten und keine Zeit, sich immer um das Mehl zu kümmern.

 

Tatsächlich hat beim Betreten des Raumes der Eindruck der Kommandozentrale nicht getäuscht, denn von hier aus wurde die gesamte Mühle über einen Computer gesteuert. Da hat man eingestellt, wieviel Prozent Getreide von einem Silo kommt und in welchen Silo das fertige Mehl gezogen wird. Wenn Mehl umgezogen oder gemischt wurde, dann hat man das von hier aus gesteuert. Das hat der Müller gemacht.

 

Gegen Ende des Gesprächs kommt, wie mir scheint, noch ein nicht ganz unwichtiger Punkt im Produktions- und Arbeitsablauf hinzu, denn: Man muss das mahlen, das Mehl erzeugen, was auch verkauft werden kann! Das heißt, wenn man einen Kunden hat, der viel 480er- oder 380er-Mehl braucht, dann kann man nicht 700er-Mehl produzieren. Dann ist das 700er-Silo voll, aber man hat kein 380er-Mehl, das man verkaufen kann.

 

Dass Mehl nicht gleich Mehl ist, war mir schon klar, aber dass auch Weizenmehl nicht gleich Weizenmehl ist, war mir irgendwie nicht so bewusst. Von einem Getreidekorn verwendet man für die Herstellung von Mehl maximal 15 bis 18 Prozent. Mehr geht nicht. Also hat man 85 Prozent was anderes. 700er-Mehl kann man viel produzieren, aber helle Mehle kann man nur in begrenzter Menge herstellen. Deswegen sind helle Mehle auch deutlich teurer. Man sagt, 15 bis 20 Prozent der Produktion ist hochwertiges Mehl, 30 bis 40 Prozent ist 700er und der Rest ist dann noch Kleie – die Schale um den Getreidekörper – Die Rösselmühle hat zum Beispiel viel 480er-Mehl nach Slowenien verkauft – 480er ist ein weißes, glattes Mehl, das man vor allem für Kuchen, Torten, Gebäck, Mürbteig et cetera verwendet. Anscheinend ist es das beliebteste Haushaltsmehl. – Damit wir dieses Mehl in der benötigten Menge produzieren können, haben wir auch Kunden gebraucht, die 700er-Mehl kaufen. Deshalb wurde zum Beispiel das 700er-S-Budget für Spar produziert. Das war finanziell kein Geschäft. Das war eigentlich nur Arbeit ohne Gewinn. Sicherlich kann man auch nur 700er-Mehl produzieren, dann hat man zwar kein hochwertiges Produkt, aber viel weniger Aufwand und kann billiger verkaufen. Das muss man alles berechnen und beim Preis berücksichtigen, auch den Aufwand und vor allem das Personal. Hier kann man nicht so billig produzieren. Das fängt schon mit dem Gebäude und der Zufahrt an. Wir hatten 20 Angestellte und haben viermal weniger produziert als zum Beispiel beim Pfahnl – eine automatisierte Hightech-Mühle in Österreich – Die Rösselmühle hatte aber auch andere Kunden! Wir haben für Kleinkunden produziert, für Gastbetriebe und Pizzerien in der Steiermark im Umkreis von circa 150 Kilometern. Slowenien war das Weiteste. Beim Pfahnl gibt es keine Kleinpackungen und fast keine Sackware, sondern nur Silokunden. Wir sind mit unseren Kleinpackungen drei bis vier Stunden in der Steiermark herumgefahren, um die Kunden zu beliefern[27]. Der Pfahnl ist in der Nähe von Wien und beliefert ausschließlich den „Anker“ drei- bis viermal pro Tag mit nur einem einzigen Fahrer. Das kann man überhaupt nicht vergleichen.

 

Getreideeingangsbuch Ende: 1999
 

Ich weiß nicht, ob Franz als allgemeingültiges Beispiel der Generation von Arbeitern und Arbeiterinnen einer Zeit steht, in der Produktion im Alltag noch eine sichtbare Handlung hatte und Arbeitsabläufe einen überschaubar verständlichen Zusammenhang ergaben. Ich stelle mir gerade vor, über wie viel unterschiedliches Wissen die Arbeiter und Arbeiterinnen der verschiedensten Produktionsstätten verfügt haben müssen, ein Wissen, das sie sich in ihrer täglichen Erfahrung angeeignet haben und das zugleich von einer real nützlichen Bedeutung im Alltag für sie war.
Franz hat, wie mir scheint, mindestens die halbe oder auch die ganze Mühle mit den eigenen Händen berührt, repariert, gebaut, gepflegt und verstanden und er kümmert sich bis heute noch immer um sie. Auf die Frage, warum er so viel über Mehlproduktion weiß, antwortete er einmal: Als gelernter Maschinenschlosser habe ich die ganzen Maschinen hier repariert und weiß, wie sie funktionieren. Dabei sieht und lernt man automatisch, wofür die Maschine ist, denn sonst kann man sie ja nicht reparieren. Man repariert ja auch nicht ein Auto, ohne dass man weiß, wie es fährt – grundsätzlich geht das natürlich, aber das macht keinen Sinn.
Diesen Satz könnte man als eine pragmatische Lebensweisheit am Ende einfach so stehen lassen, aber dennoch frage ich mich zum Schluss: Was macht so ein Mensch wie Franz, wenn es die Mühle nicht mehr gibt?

Franziska Schink

© Franziska Schink 2025

bottom of page